Schule für das Leben
Zahlreiche Legenden ranken sich um das japanische Schwert und natürlich ebenso um deren Erschaffer. Eine dieser Legenden erzählt vom Vergleich zweier Klingen durch einen berühmten Schwertschmiedemeister. Der wollte herausfinden, welcher seiner beiden besten Lehrlinge wohl am ehesten geeignet sei, seine Tochter zu heiraten. Also stach der Schmied die besten Schwerter seiner beiden Schüler in ein Bachbett. Das eine Schwert zerschnitt alles, was in dem Bach schwamm – Lotosblätter, Stroh, Fische und sogar die Luft selbst. An dem anderen Schwert hingegen floss das Wasser mitsamt dem Treibgut einfach ungerührt vorbei. Für die nicht eingeweihten Zuschauer war damit klar, welche Klinge die bessere sei. Doch der Schwertschmiedemeister kam zu einem anderen Ergebnis. Er hielt jenes Schwert für das bessere, welches keine unnötigen Schnitte ausführte, dasjenige also, das nicht alles zerstörte, was seinen Weg kreuzte.
Mit diesem Gleichnis überraschte Masashi MATSUMOTO, 8. Dan Kyoshi, die Teilnehmer des Kangeiko 2015 in Lindow zu Beginn einer Trainingseinheit. Für MATSUMOTO Sensei, der bereits 2003/04 als Bundestrainer in Deutschland zu Besuch war, und dem mit Maya OSAKI, 7 Dan Kyoshi, eine hervorragende Assistentin zur Seite stand, lässt sich die Legende des Schwertvergleichs auf das heutige Kendo und die Übenden übertragen. Die Legende hat einen historischen Hintergrund. Sie geht zurück auf die beiden Schwertschmiedemeister MURAMASA und MASAMUNE, die tatsächlich – aber zu unterschiedlichen Zeiten gelebt und gewirkt haben. MURAMASA galt zu Lebzeiten während der Muromachi-Zeit (14. – 16. Jh.) als unbeherrscht und sadistisch. Diese Charaktereigenschaften sollen sich auf seine Schwertklingen übertragen haben. MASAMUNE, lebte rund 300 Jahre zuvor. Er galt als einfühlsamer und gelassener Mensch, der sein Handwerk stets zu vervollkommnen suchte. Tatsächlich findet sich eine Analogie zu der Geschichte und der Legende in den Grundgedanken des alljapanischen Kendo Verbandes, die 1975 formuliert wurden: „…Die Übung des Kendo hat den Vorsatz, Geist und Körper zu formen, eine starke Seele zu entwickeln, durch strenges Üben Fortschritt in der Kunst des Kendo anzustreben, Höflichkeit und Ehre des Menschen zu achten, mit anderen aufrichtig umzugehen und unaufhörlich die persönliche Weiterentwicklung zu verfolgen. So wird man fähig, sein Land und die Gesellschaft zu lieben, zur Entwicklung der Kultur beizutragen sowie Frieden und Wohlergehen unter allen Völkern zu fördern.“ (ZNKR, 1975)
Für die rund 150 Teilnehmer des Wintertrainingslagers des DKenB mag es ganz unterschiedliche Motivationen zum Besuch in Lindow gegeben haben. Sei es, sich für die Nationalmannschaft zu qualifizieren, deren Training auch in diesem Jahr Hiromitsu SATO, 7. Dan Kyoshi, übernahm, oder sich für die Dan Prüfung vorzubereiten. Für die Kenshi erschloss sich der Sinn des Vortrages von MATSUMOTO Sensei fast wie von selbst. Das fordernde Training, das traditionell bereits um 06:30 Uhr beginnt, was für den einen oder anderen an sich schon eine besonders harte Probe darstellt, schweißt zusammen. Und es macht immer wieder deutlich, dass es nicht einfach darum geht, einen Gegner zu besiegen, sondern von ihm zu lernen und sich vielleicht auch selbst zu besiegen, also die eignen Schwächen abzustellen.
Schon die Jüngsten, die unter der Leitung von Akihiko TSUNESHI, 7. Dan Kyoshi, trainierten, bemerkten, dass man beim Kendo nicht nur Kampftechniken erlernt. Viele neue Bekanntschaften und Freundschaften wurden geschlossen, die weit über das Trainingslager hinaus reichen werden. Auch wenn die Kinder und Jugendlichen den Vortrag von MATSUMOTO Sensei nicht hören konnten, sind sie eine Art natürliche Botschafter des Gedankens, der dafür steht, dass Kendo mehr ist als Sport – so wie ein Schwert eben mehr sein kann als eine scharfe, alles zerschneidende Klinge.
Bilder vom Kangeiko 2015 findet ihr auf der Facebook-Seite des DKenB.