Die Besteigung des Kendo Olymps 2023 Lindow Camp- 51. Kangeiko
Text: Mika Brzezinka
Spätestens mit dem ersten demonstrierten Zenshin Men von Tadaomi Hojo Sensei ( Kendo Kyoshi 7.Dan) wird allen Angereisten Kendoka am Morgen des 27.12.2023 um 6.55 morgens klar, dass die allgemeine Kendoroutine des eigenen Dojos für mindestens vier darauffolgende Tage vorbei ist. Alle ketzerischen Gedanken beim Aufwachen durch den Alarm ( „noch einmal umdrehen“, nur noch 5 Minuten weiterschlafen“, „es wird mich ja eh keiner beim Asageiko vermissen“), sind schlagartig beendet. Die geballte Energie aller, die aus allen Himmelsrichtungen angereist sind, um im winterlichen Lindow ein Stück dem eigenen Kendoziel näher zu kommen, ist spürbar. Der Hunger nach einem gemeinsamen Training nach der Durststrecke der Coronajahre ist hier im ausgehenden 2023 immer noch zu spüren. Masashi Matsumoto Sensei, ( Kendo Hanshi 8. Dan) begrüßt alle mit den Worten: „Corona war eine Zäsur, eine Zeit des Sich- Besinnens und sich Entscheidens für Kendo oder eben auch dagegen. Wir sind nun alle hier, weil wir uns für Kendo entschieden haben.“ Uwe Kumpf, Präsident des Deutschen Kendoverbandes ist anzusehen, wie stolz er ist, das bislang mengenmäßig größte Kangeiko eröffnen zu dürfen.
Vier hochrangige japanische Lehrer, die das Kangeiko leiten und eine durchdachte Organisation von seiten des Deutschen Kendoverbandes ( Dkenb) prägen das Kangeiko 2023. Die Auswahl der Lehrer ist eine Auswahl des Herzens und eines lange gewachsenen Konzeptes des Präsidenten Kumpf des Dkenbs. “Wir brauchen ein visuelles Vorbild für unsere Kendoka in Deutschland“, sagt er und meint damit die Fähigkeit von allen ausgewählten Senseis alles selber vormachen zu können – „eine Auswahl von dynamischen, nahbaren Senseis“. Dabei könnten die Senseis nicht unterschiedlicher in ihrer Persönlichkeit sein, als die vier, die hier fünf Tage lang auf das, was sie vorfinden mit Herz, Seele und einer lebenslangen Kendo- Erfahrung eingehen werden. Was alle Senseis eint, ist der Wunsch, das Kendo zu vermitteln, welches ihrer Kendoweltsicht entspricht und welches sie mit Leidenschaft, Hingabe und Engagement im japanischen Kendoalltag leben.
Die drei Trainingsgruppen des Lindow Camps
Wenn der Weg des Kendos eine Mount Everestbesteigung wäre, dann sammeln sich sehr viele Menschen im Basislager- dem Basecamp. Im Basecamp trifft man auf Hoffnungen, Visionen, langjährige Erfahrung, Träume, erfolgreiche legendäre Kämpfer aber auch grobe Fehler, Ängste und manchmal auch Verzweifelung. So wird hier der Breitensport genannt. Ein wenig weiter entfernt trainieren die Jungen und die Kids, die ohne große Schwierigkeit die effektivste und leichtfüßigste Art und Weise des Kendo-Bergsteigens lernen, um im Team gemeinsam voranzukommen- nennen wir dieses Camp das Kidscamp. Gegenüber von den Kindern in der Halle trainiert die Nationalmannschaft (NT) mit Gästen – eine beträchtlich 44 – köpfige große Gruppe von Ambitionierten, die kampfstark ist und Deutschland repräsentieren möchte- nennen wir dieses Camp das Leistungscamp. Egal in welcher Trainingsgruppe man trainiert, das Ziel ist eins. Jede/r möchte sein/ ihr eigenes Kendo verbessern, stärker werden, siegen- den Kendo Gipfel besteigen.
Im Basecamp erfährt Matsumoto Sensei, dass schlechte Gewohnheiten ( u.a. mit Kraft ausholen und dann aber schwach schlagen) und die inkorrekte Fußarbeit seine Pläne durchkreuzen und ein Alternativplan mit Hojo Sensei entwickelt werden muss. Equivalent zu: x- beinig kann man den Mount Everest nicht besteigen. Basecamp wird in 2 Gruppen geteilt, so dass die „überflüssigen ineffizienten Gewohnheiten“ von ihm ausgemerzt werden können. Die zweite Basecamp Gruppe mit den weniger ausgeprägten, schlechten Gewohnheiten kommt in den Genuss von Hojo Senseis Humor
und erfährt, was „Telefon- Kendo“ und „full automatic Kendo“ bedeutet. Wer dem Gegner vorher per phone mitteilt, dass er im Begriff ist, Men zu schlagen, sollte lieber lernen, sein Telefon auszuschalten und wer schlau ist, benutzt die Bewegung des Gegners, um weniger Kraft einzusetzen- das automatic Kendo. Wenn Hojo Sensei nicht bei der Polizei in Kanagawa Kendo unterrichten würde, hätte er gute Chancen, als Entertainer aufzutreten.
Tag 1 bei den Kindern im Kids- Camp: die Schuhe, die jedes Kind vor dem Betreten der Halle auszieht, liegen kreuz und quer- das Equivalent zu: die Rucksäcke sind sehr schlecht gepackt und die Bergbesteigung muss warten. Akt eins: Hidenori Ebihara Sensei (Kiyoshi 7. Dan) entscheidet, dass Kendo erst unterrichtet wird, wenn die Rollen und die Aufgaben klar verteilt sind, so dass die Rucksäcke besser gepackt werden. Pro sauber hingestellter Schuhe gibt es ein Bonbon. Und jeder Ältere bekommt ein Schützling, um den er sich kümmern muss. Der ältere Sempai hat die Verantwortung, wenn der Kleine in der Ecke steht und nicht weiß , was er wie tun soll und die Menhimo nicht richtig gebunden sind. Die Kinder sind begeistert und wollen ganz schnell den Berg hinauf.
Derweil hört man aus dem Leistungscamp die Anwärter des NT den Tag mit dem Polizeilauf beginnen und emsig trainieren. Equivalent zu Liegestütze mit bepackten Rucksäcken. Seiichiro Morisaki (Kendo Kiyoshi 7. Dan) entschließt sich mit seinen ca 60 Jahren komplett das Training mitzutrainieren und steigert die Stimmung. Später verschwinden dann aus dem Basecamp die Kampfrichter, um bei den Wettkämpfen des NTs zu schiedsen. Dabei lastet eine enorme Verantwortung auf ihnen, da ihre Entscheidungen über eine Einladung ins Team und so über das Schicksal der Senshu entscheidet. Aber da die meisten schon einmal selber im Leistungscamp trainiert haben, wissen sie, worum es geht. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, werden die Kampfrichter, die sich für das Amt des Bundeskampfrichters bewerben, von Matsumoto Sensei in der Praxis geschult.
Die allgemeine Stimmung ist am dritten Tag müde und inzwischen weiß jeder, was es heißt, aus dem Bett zu steigen, Kendo zu verfluchen, die Blasen zu verbinden, das immer noch klamme Men aufzusetzen, das Neonlicht im Zimmer und in der Halle zu verwünschen. Manche erfahren das Glück und den Stolz, wenn irgendetwas, was man sich vorgenommen hat, das kleinste Etwas, was korrigiert werden konnte zu einer merklichen poisitiven Konsequenz führt. Das entschädigt alle Widrigkeiten und gibt Mut sich der Ineffizienz zu stellen. Equivalent zu: ich setze die Füße möglichst so, dass ich so wenig Energie einsetze, um den Berg zu besteigen. Die Realität der Bergbesteigung ist steinig und steil und manchmal muss man einfach nur ertragen, wenn man nicht vorwärts kommt. Und manchmal muss man Umwege gehen, um dem Gipfel schneller näherzukommen.
„Es macht Angst, etwas, was zu einer Gewohnheit geworden ist, zu verändern. Wenn man bisher mit einer bestimmten Art, Erfolge erzielt hat und damit gesiegt hat ( viele Höhenmeter schnell aber angestrengt schafft*), ist es schwer, sich davon zu lösen. Das Beharren darauf kann dazu führen, dass man sich in einer Sackgasse wiederfindet und sich nicht mehr weiter entwickelt“, sagt Hojo Sensei.
Ob wir und wie wir einen Berg besteigen, der mächtig vor uns in den Himmel ragt, ist uns überlassen. Begleitet von Senseis, die selber immer wieder Umwege gegangen sind und immer wieder umkehren mussten und uns die Hände reichen, um ihnen zu folgen, gibt Mut für den weiteren Aufstieg des Berges, der vielleicht keinen Gipfel und kein Ankommen kennt. Im nächsten Jahr geht es gemeinsam weiter.
*Anmerkung d. Autorin